17
In Dänemark strengte die Wachtturm-Organisation 2004 einen Prozess gegen die Zeitung Exstra Bladet
wegen Verleumdung an. Die Zeitung hatte im Herbst 2004 in einer Artikelserie über Kindesmissbrauch
innerhalb der Zeugen Jehovas berichtet, darin kamen auch Betroffene zu Wort. Die Wachtturm-Organisation
forderte nicht nur eine Entschädigung von 350‘000 Kronen von der Zeitung und
deren Herausgeber, sondern ging auch gegen die Opfer vor, welche über den erfahrenen Missbrauch
berichtet hatten. Sie drohte damit, diese mit Klagen in die Armut zu treiben, wenn sie ihre Berichte
nicht zurücknehmen würden, was eine Frau in der Folge tat. Die Wachtturm-Organisation verlor den
Prozess. Sie wurde 2006 dazu verurteilt, an Exstra Bladet 50‘000 Kronen zu bezahlen.55
4.2. Deutschland
Nachdem William Bowen und Barbara Anderson an die Öffentlichkeit gelangt waren, berichteten
auch deutschsprachige Medien über das Thema sexueller Gewalt an Kindern bei den Zeugen Jehovas,
z.B. die ARD in der Sendung Kontraste vom 20. Juni 200256
, Pro7 im Taff-Report vom 18. Juli 200357
,
der Spiegel in einem Artikel vom 12. Juni 200258 oder die RTL-Sendung Punkt Zwölf vom 9. Juli 200859
.
Bei fast allen berichteten Fällen sexueller Gewalt an Kindern wurden die Täter von der Organisation
gedeckt, und die Opfer bzw. deren Eltern wurden angewiesen zu schweigen.
In Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern wurde im Mai 2016 ein Fall sexuellen Missbrauchs an
einem Kind durch einen Zeugen Jehovas verhandelt.60 Das Gericht ist dem Antrag der Staatsanwaltschaft
weitgehend gefolgt und verurteilte den Täter. Typisch an diesem Fall ist, dass die Verantwortlichen
zunächst untätig blieben. Der Täter informierte die Ältesten 2006 über die Straftaten, die 2005
stattgefunden hatten. Die Verantwortlichen ergriffen jedoch erst nach sechs Jahren im Jahr 2012
Sanktionen gegen den Täter: Sie schlossen ihn aus und veranlassten, dass er eine andere Versammlung
besucht, damit ihm das Opfer nicht weiterhin begegnen müsse.
In Deutschland wurde am 26. Januar 2016 eine Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs
eingesetzt.61 Sie hat weniger weitreichende Befugnisse als die Australische Royal Commission,
dennoch ist zu hoffen, dass Betroffene ihre Erfahrungen rückmelden – ganz besonders auch im
Hinblick auf politische Prozesse.
4.3. Schweiz
Im Schweizer Dokumentarfilm „Aufgewachsen mit Jehova“ (RTS, 2012) wird das Thema sexuellen
Missbrauchs von Kindern ebenfalls thematisiert. In dieser Dokumentation kommen auch Barbara
Anderson und William Bowen zu Wort. Es äussert sich ausserdem der Genfer Anwalt François Bellan-
55
S. Artikel bei silentlambs.org (ohne Datum):
www.silentlambs.org/denmarklawsuit.htm (Zugriff: 29. Januar 2017)
56 Sendung Kontraste, ARD vom 20. Juni 2002:
www.youtube.com/watch?v=1ZbeIAse7j0 (Zugriff: 29. Januar 2017)
57 Taff-Report auf Pro7 vom 18. Juli 2003:
www.youtube.com/watch?v=OIkZ5ZjX1YM (Zugriff: 29. Januar 2017)
58 Spiegel-Artikel vom 12. Juni 2002, „Kindesmissbrauch bei den Zeugen Jehovas. Das Blöken der Lämmer.“
www.spiegel.de/panorama/kindesmissbrauch-bei-den-zeugen-jehovas-das-bloeken-der-laemmer-a-198436.html(Zugriff: 29. Januar 2017)
59 Beitrag im Nachrichtenmagazin RTL-Punkt 12 vom 9. Dezember 2008:
www.youtube.com/watch?v=akWh4BHgVTU (Zugriff: 29. Januar 2017)
60 Artikel im Nordkurier vom 10. Mai 2016, „Sexueller Missbrauch: Zeuge Jehovas verurteilt“:
www.nordkurier.de/anklam/sexueller-missbrauch-zeuge-jehovas-verurteilt-1022473505.html (Zugriff: 29. Januar
2017)
61 Unabhängige Kommission in Deutschland zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs:
beauftragter-missbrauch.de/aufarbeitung/aufarbeitung-in-deutschland/ (Zugriff: 29. Januar 2017)
18
ger zur Gesetzgebung in der Schweiz: Aus dieser geht nicht klar hervor, ob ein Ältester als „Geistlicher
Würdenträger“ gilt. Ein solcher untersteht der Schweigepflicht und muss sexuellen Missbrauch,
von dem er erfährt, nicht den Behörden melden, muss aber die Vorgesetzten darüber unterrichten.
Bellanger fordert eine generelle Anzeigepflicht von Sexualstraftaten an Minderjährigen.62 Ein Interview
mit einer Traumatherapeutin im Schweizer Online-Journal watson.ch fand jüngst grosse Beachtung.
63 Rund ein Viertel ihrer KlientInnen sind ehemalige Zeugen Jehovas, die Mehrzahl habe sexuelle
Gewalt erfahren. Die Zeugen Jehovas Schweiz wollten gegen die Therapeutin klagen, ein Ansinnen,
das von der Staatsanwaltschaft abgelehnt wurde.64
Auch der Fachstelle für Sektenfragen infoSekta wurden Fälle von Kindesmissbrauch innerhalb der
Gemeinschaft der Zeugen Jehovas rückgemeldet.
4.4. Portugal, Spanien, Italien
Im kürzlich ausgestrahlten Dokumentarfilm „Im Schatten der Sünde“ ist die portugiesische Journalistin
Ana Leal lange vertuschten Missbrauchsfällen innerhalb der Zeugen Jehovas in Portugal nachgegangen.65
David Splane, Mitglied der Leitenden Körperschaft, sorgte kurz nach Ausstrahlung des Films
im Herbst 2015 für Schlagzeilen: Er behauptete, die Journalistin Ana Leal habe nicht gründlich recherchiert,
die Organisation sei nicht zu Wort gekommen. Diese Behauptung war falsch, wie sich
herausstellte. Vielmehr hatte sich die Landeszentrale zu den Vorwürfen auch auf wiederholte Anfrage
nicht äussern wollen – selbst dann nicht, als Ana Leal ein weiteres Mal mit Kamerateam vor Ort
nachfragte. Darüber wurde dann im portugiesischen Fernsehen ebenfalls berichtet.66 Es gab aber
schon vor dem Dokumentarfilm von Ana Leal verschiedene Berichte über Opfer von Kindesmissbrauch
bei den Zeugen Jehovas.67
Mitte Januar dieses Jahres gelangte in Spanien eine Aktivisten-Gruppe namens AbusosTJ an die Öffentlichkeit,
mehrere spanische Medien berichteten darüber. Die Gruppe strebt „Wiedergutmachung
und Gerechtigkeit“ an für alle von Missbrauch durch die Wachtturm-Organisation Betroffenen. Sie
fordert, dass Missbrauch künftig den Behörden gemeldet werden muss und nicht von einer eigenen
Gerichtsbarkeit verhandelt wird. Die Gruppe AbusosTJ hat gegen die Wachtturm-Organisation in
Spanien Anzeige erstattet, weil diese sich weigert, interne Dokumente zu Fällen von Kindesmissbrauch
herauszugeben. Manche dieser Dokumente wären für laufende Prozesse zu Missbrauchsfällen
von Bedeutung. Eine spanische Parlamentarierin hat im Januar 2017 eine Anfrage an die Regie-
62 Sendung des Westschweizer Fernsehens RTS von 2012, „Aufgewachsen mit Jehova“:
www.youtube.com/watch?v=4xm-61LCYKQ (Zugriff: 29. Januar 2017)
63 Artikel in Watson.ch vom 23. April 2015, „Therapeutin im Interview: ‚Praktisch jede meiner Patientinnen, die bei
den Zeugen Jehovas aufwuchs, wurde missbraucht‘“:
www.watson.ch/Front/articles/931336422-Therapeutin-im-Interview%3A-%C2%ABPraktisch-jede-meinerPatientinnen%2C-die-bei-den-Zeugen-Jehovas-aufwuchs%2C-wurde-missbraucht%C2%BB(Zugriff: 29. Januar
2017)
64 Artikel in Watson vom 22. Oktober 2015, „Zeugen Jehovas zeigen Beraterin von Missbrauchsopfern wegen übler
Nachrede an und blitzen ab“:
www.watson.ch/Schweiz/Best%20of%20watson/549251076-Zeugen-Jehovas-zeigen-Beraterin-vonMissbrauchsopfern-wegen-%C3%BCbler-Nachrede-an-%E2%80%93-und-blitzen-ab(Zugriff: 29. Januar 2017)
65 Dokumentarfilm in der Sendereihe „Reporter“ auf TV1 vom 18. Oktober 2015, „Na sombra do pecado“, (mit deutschen
Untertiteln):
www.facebook.com/Exit.ZJ/videos/784179655048246/ (Zugriff: 29. Januar 2017)
66 Nachrichtensendung vom 5. November 2015 auf TV1, „Entrevista a uma vitima de abuso sexual nas Testemunhas
de Jeová“:
www.youtube.com/watch?v=p9yYAbywj_0&feature=youtu.be (Zugriff: 29. Januar 2017)
67 Interview mit einem Missbrauchsopfer am 18. Juli 2014 im Sender SIC:
www.youtube.com/watch?v=_3aFYR9G31E (Zugriff: 29. Januar 2017)
19
rung zum Vorgehen der Wachtturm-Organisation eingereicht. Auf der Webseite von Barbara Anderson
finden sich die englischen Übersetzungen der verschiedenen spanischen Zeitungsberichte.68
Auch in Italien war Kindesmissbrauch bei den Zeugen Jehovas jüngst ein Thema in den Medien. Der
Journalist Luigi Pelazza berichtet in der Sendung Le Iene des Senders Italia1 im März 2016 über neue
Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs innerhalb der Gemeinschaft in Italien.
69
Ein aktiver Zeuge Jehovas gibt in der Sendung anonym zu bedenken, dass es fast nie einen (zweiten)
Zeugen sexuellen Kindesmissbrauchs gebe. Ausserdem bezweifelt er, dass Älteste die Voraussetzungen
mitbrächten, um Abklärungen in Fällen von Kindesmissbrauch vorzunehmen. Man nehme in
Kauf, dass viele Täter straffrei davonkämen.
Eine betroffene Frau erzählt, wie sie als Kind von einem Ältesten missbraucht wurde. Als sie ihrer
Mutter davon berichtete, habe ihr diese zunächst nicht glauben wollen. Schliesslich meinte die Mutter,
die Tochter solle sich an die anderen Ältesten der Versammlung wenden, sie wollte aber keine
Anzeige machen. Das Mädchen war sich allerdings sicher, dass der Täter seine Tat niemals gestanden
hätte, und sagte nichts.
Eine weitere Betroffene berichtet vom Missbrauch durch ihren eigenen Vater. Als sie den Ältesten
davon erzählte, hätte man ihr nicht geglaubt und ausserdem verlangt, dass sie mit niemandem dar-
über spreche – weil sonst Schande über die Familie käme. Aber selbst nach dem Geständnis des Vaters
sei nicht viel passiert. Ein internes Gericht habe ihn ausgeschlossen, nur um ihn zwei Jahre später
wieder aufzunehmen. Nie sei in Erwägung gezogen worden, den Vater anzuzeigen. Dadurch seien die
Ältesten zu seinen Komplizen geworden.
4.5. Frankreich und Belgien
In Frankreich wurden in Dijon 1998 drei Älteste zu einer bedingten Haftstrafe verurteilt, weil sie,
obwohl sie von sexuellen Übergriffen eines Mitgliedes auf ein Kind wussten, untätig blieben. Im Gerichtsverfahren
sagte einer der Angeklagten u.a.: „Wenn wir von einem Verbrechen gewusst hätten,
hätten wir es möglicherweise angezeigt, aber Vergewaltigung/sexueller Missbrauch ist etwas anderes“
(„Si nous avions eu connaissance d'un crime nous serions peut être allés le dénoncer, mais un viol
c'est différent").
70
Im gleichen Jahr wurde in der Region Pézénas gegen zehn Mitglieder der Zeugen Jehovas eine Strafuntersuchung
eingeleitet, weil sie nichts unternahmen, obwohl sie von sexueller Gewalt gegenüber
Minderjährigen wussten. Die Taten fanden zwischen 1985-1996 statt. Auch hier beriefen sich beschuldigte
Älteste auf das Beichtgeheimnis. Vier Personen wurden schliesslich zu einer Geldstrafe
verurteilt.
71 Der Täter wurde zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt. Es fanden in Frankreich noch
68 Watchtower Documents: Spanish JWs file complaint demanding secret documents:
watchtowerdocuments.org/spanish-jws-file-complaint-demanding-secret-documents/ (Zugriff: 29. Januar 2017)
69 Artikel in Libero Quotidiano vom 3. März 2016, „Testimoni di Geova“:
www.liberoquotidiano.it/news/italia/11884854/testimoni-di-geova-le-iene-abusi-sessuali.html (Zugriff: 31. Januar
2017)
Betroffenenseite Associazione vittime torre die guardia:
associazionevittimetorrediguardia.wordpress.com/ (Zugriff: 31. Januar 2017)
Übersetzung der Beiträge als Grundlage für die Zusammenfassung durch Christian Rossi.
70 Artikel in Le canard enchaîné vom 25. März 1998, „Des Témoins qui n'aiment pas témoigner...“, verfügbar auf der
Website von Prevansectes.com:
www.prevensectes.com/rev9803.htm#7 (Zugriff: 29. Januar 2017)
71 Artikel in Libération vom 25. Dezember 1999, „Témoins de Jéhovah silencieux condamnés“:
www.liberation.fr/societe/1999/12/25/temoins-de-jehovah-silencieux-condamnes_292740 (Zugriff: 29. Januar
2017)
20
verschiedene weitere Verfahren gegen Mitglieder der Zeugen Jehovas wegen sexuellen Kindesmissbrauchs
statt.72 In einem Fall, der 2008 verhandelt wurde, hatte sich das 22-jährige Opfer zwei Jahre
zuvor umgebracht, vor dem Königreichsaal, in dem es als Kind vergewaltigt worden war. Das Rechtskomitee
hatte damals befunden, dass nichts gegen den Täter unternommen werden könne, weil es
keine Zeugen gebe.
73
Im Sommer 2013 erschien in einer Lyoner Zeitung eine Artikelserie über sexuellen Missbrauch innerhalb
der Zeugen Jehovas. Es äusserten sich drei Betroffene, ausserdem gab es ein Interview mit William
Bowen.
74 Bowen sagte, dass man in Frankreich, ausgehend von der Datensammlung, auf die er
sich stützt, von 375 möglichen Fällen von zugegebenem sexuellem Missbrauch ausgehen müsste.
In Belgien kam es im Jahr 2005 zu einem Prozess, auch hier versuchten die Verantwortlichen die sexuelle
Gewalt gegenüber dem neunjährigen Kind zu vertuschen.76 Der frühere Älteste und heutige
Aktivist Patrick Haeck aus Gent wurde ausgeschlossen, weil er Anzeige gegen einen Pädophilen innerhalb
der eigenen Reihen machen wollte. Seine Argumentation, der Täter könnte sich andernfalls
an weiteren Kindern vergehen, verfing nicht.77
4.6. Kanada
Anfang Dezember 2016 berichtete die Sendung Enquête von Radio Canada über einen Missbrauch an
einem damals 10-jährigen Mädchen.
78 Als dieses als junge Frau Jahre später von einem anderen Opfer
des gleichen Klavierlehrers, einem Ältesten in der Versammlung, erfuhr, meldete sie das den Ältesten,
worauf es zu einer Rechtskomitee-Verhandlung kam. Aufgrund der oben erwähnten ZweiOpfer-Regel
bestand jetzt eine Grundlage für ein Vorgehen nach Zeugen Jehovas-Recht. In Anwesenheit
des Täters wurde das Opfer von drei Ältesten befragt, der Täter bestritt alles. Er wurde ausge-
72 Auflistung bei
www.tj-encyclopedie.org:
www.tj-encyclopedie.org/Liste_d'affaires_de_p%C3%A9dophilie_impliquant_judiciairement_le_mouvement#cite_ref-7(Zugriff: 29. Januar 2017)
73 Artikel in Le Parisien vom 12. Januar 2008, „Un témoin de Jéhovah mis en examen pour viol de mineure“:
www.leparisien.fr/faits-divers/un-temoin-de-jehovah-mis-en-examen-pour-viol-de-mineure-12-01-2008-3295968619.php (Zugriff: 29. Januar 2017)
74 Artikel in Lyon Capitale vom 22. Juli 2013, „Témoins de Jéhovah: Omerta sur des abus sexuels“:
www.lyoncapitale.fr/Journal/France-monde/Actualite/Societe/Temoins-de-Jehovah-omerta-sur-des-abus-sexuels(Zugriff: 29. Januar 2017)
Artikel in Lyon Capitale vom 23. Juli 2013, „Témoins de Jéhovah: des victimes d’abus sexuels racontent“:
www.lyoncapitale.fr/Journal/France-monde/Actualite/Societe/Temoins-de-Jehovah-des-victimes-d-abus-sexuelsracontent(Zugriff: 29. Januar 2017)
Artikel in Lyon Capitale vom 24. Juli 2013, „Abus sexuels: la règle du silence des Témoins de Jéhovah“:
www.lyoncapitale.fr/Journal/France-monde/Actualite/Societe/Abus-sexuels-la-regle-du-silence-des-Temoins-deJehovah(Zugriff: 29. Januar 2017)
76 Beitrag bei dhnet.be vom 26. August 2005, „La loi du silence“:
www.dhnet.be/actu/faits/la-loi-du-silence-51b7c5d8e4b0de6db98d3b62 (Zugriff: 29. Januar 2017)
77 Artikel in Nieuwsblad vom 1. April 2015, „Ex-lid klaagt beweging aan voor beledigingen en discriminatie“
www.nieuwsblad.be/cnt/dmf20150331_01608958 (Zugriff: 29. Januar 2017)
deutsche Übersetzung s. FB-Post vom 2. April 2015:
www.facebook.com/infosekta/posts/1649527838612525 (Zugriff: 29. Januar 2017)
78 Radio Canada, Sendung Enquête vom 1. Dezember 2016, „Une justice parallèle pour les Témoins de Jéhovah pé-
dophile”:
ici.radio-canada.ca/nouvelles/special/2016/12/temoins-jehovah-agressions-sexuelles-pedophilie-temoignages/
(Zugriff: 31. Januar 2017)
Artikel bei CBC News vom 1. Dezember 2016, „Jehovah's Witnesses' process for handling child sex abuse allegations
keeps authorities in the dark”:
www.cbc.ca/news/canada/montreal/jehovah-witnesses-abuse-1.3874884 (Zugriff: 31. Januar 2017)
21
schlossen; weil er jedoch gegen das Verdikt des Rechtskomitees zweimal Einspruch einlegte, wurden
die Opfer insgesamt dreimal in Gegenwart des Täters vom Rechtskomitee befragt. Schliesslich wurde
der Täter, der seine Taten weder zugab noch bereute, in einer anderen Versammlung wieder aktiv,
was gegen die internen Weisungen verstiess. In einem anderen Fall, der gegenüber Radio Canada
berichtet wurde, musste ein fünfjähriger Junge in einem Rechtskomitee dem Täter gegenübersitzen.
5. Australien – staatliche Untersuchungskommission
Die bisher umfassendste Aufarbeitung des Themas sexuellen Missbrauchs an Kindern bei den Zeugen
Jehovas fand im letzten Sommer in Australien statt. Eine staatliche Sonderkommission, die Royal
Commission zur Untersuchung des institutionellen Umgangs mit sexuellem Kindesmissbrauch, untersuchte
das extreme Ausmass von sexueller Gewalt innerhalb der Wachtturm-Organisation in Australien.
Die Aufzeichnungen und Protokolle der Anhörungen sowie ein Grossteil der Unterlagen, welche
der Kommission vorlagen, können auf der Website der Kommission eingesehen werden.79
Die Royal Commission hat die Wahrnehmung des Problems sexuellen Kindesmissbrauchs innerhalb
der Zeugen Jehovas verändert, wie John Redwood schreibt. Es wurde weltweit über die Untersuchung
berichtet.80 Viele weitere betroffene Personen sind in der Folge der Untersuchungen der Royal
Commission an die Öffentlichkeit getreten.
81 In diesem Kapitel werden die wichtigsten Ergebnisse
und Folgerungen der Royal Commission dargestellt.
79 Public Hearings, Case Study 29, July 2015: (Zugriff: 29. Januar 2017)
Aufzeichnungen, Protokolle und Beweismittel der öffentlichen Befragungen:
www.childabuseroyalcommission.gov.au/case-study/636f01a5-50db-4b59-a35e-a24ae07fb0ad/case-study-29,-july-2015,-sydney
Am 28. November veröffentlichte die Untersuchungskommission den Untersuchungsbericht:
www.childabuseroyalcommission.gov.au/getattachment/c2d1f1f5-a1f2-4241-82fb-978d072734bd/Report-ofCase-Study-No-29(Zugriff: 29. Januar 2017)
80 Auswahl von Artikeln in englischsprachigen Medien mit deutscher Übersetzung:
- Artikel in der Washington Post über Ergebnisse der australischen Untersuchungskommission vom 14. August
2015, übersetzt durch Will Cook:
www.facebook.com/infosekta/posts/1703262016572440 (Zugriff: 29. Januar
2017)
- Artikel aus News.com vom 5. August 2015, übersetzt durch infoSekta, FB-Post vom 7. August 2015:
www.facebook.com/infosekta/posts/1699685666930075 (Zugriff: 29. Januar 2017)
- Artikel in The Guardian vom 27. Juli 2015, übersetzt durch infoSekta, FB-Post vom 27. Juli 2015:
www.facebook.com/infosekta/posts/1695621740669801 (Zugriff: 29. Januar 2017)
- Artikel in The Sidney Morning Herald vom 22. Juni 2015, übersetzt durch infoSekta, FB-Post vom 29. Juni 2015:
www.facebook.com/infosekta/photos/a.1423487234549921.1073741828.1378964159002229/1686959704869338/?type=3 (Zugriff: 29. Januar 2017)
Artikel in deutschsprachigen Medien:
- Artikel im online-Journal vice vom 29. Juli 2015, „Über 1000 Zeugen Jehovas werden in Australien des Kindesmissbrauchs
beschuldigt“:
www.vice.com/de/read/in-australien-werden-ueber-1000-zeugen-jehovas-des-kindesmissbrauchs-beschuldigt-462(Zugriff: 29. Januar 2017)
- Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom 29. Juli 2015, „Zeugen Jehovas vertuschten über Jahrzehnte sexuellen
Missbrauch“
www.sueddeutsche.de/panorama/australien-zeugen-jehovas-vertuschten-ueber-jahrzehnte-sexuellenmissbrauch-1.2587889(Zugriff: 29. Januar 2017)
- Artikel in kath.ch vom 27. Juli 2015, „Australien: Zeugen Jehovas räumen Vertuschung von Missbrauch ein“:
www.kath.ch/newsd/australien-zeugen-jehovas-raeumen-vertuschung-von-missbrauch-ein/ (Zugriff: 29. Januar
2017)
81 So ging das Youtube-Video von Tricia Franginha viral, in dem die junge Frau vom sexuellen Missbrauch durch den
eigenen Vater berichtet und von der unglaublichen Vertuschung dieses Verbrechens:
www.youtube.com/watch?v=obk08U_9PM8&list=RDobk08U_9PM8#t=16 (Zugriff: 29. Januar 2016)
22
5.1. Australian Royal Commission into Child Abuse
In Case Study 29 untersuchte die staatliche Kommission den Umgang der australischen Gemeinschaft
der Zeugen Jehovas mit Kindesmissbrauch in den eigenen Reihen. In Australien gibt es 821 Versammlungen
mit 68‘000 aktiven Mitgliedern.82 Die Royal Commission hörte Opfer an, sichtete interne Dokumente
und Aufzeichnungen und vernahm mehrere Mitglieder in leitender Funktion. Die Kommission
hat die Kompetenz, Personen vorzuladen und unter Eid zu befragen, und sie kann Einsicht in Dokumente
und Akten verlangen. So unterzog sich das Mitglied der Leitenden Körperschaft Geoffrey
Jackson der Befragung alles andere als freiwillig. Hätte er der Vorladung nicht Folge geleistet, hätte
er Australien, sein Heimatland, wo er gerade seine Familie besuchte, nicht mehr verlassen können.
Im Juli 2015 fanden die öffentlichen Anhörungen statt. Anhand von zwei Fallbeispielen wurde der
Umgang der Zeugen Jehovas in Australien mit Missbrauchsvorwürfen dargestellt. Die Royal Commission
befragte mehrere der Ältesten, die im Zusammenhang mit diesen konkreten Missbrauchsfällen
tätig geworden waren, leitende Mitglieder der Zeugen Jehovas Australien, u.a. den Anwalt Vincent
Toole sowie Geoffrey Jackson als Vertreter der weltweiten Leitung.
Die Kommission hatte Einblick in die internen Aufzeichnungen der australischen Gemeinschaft. Aus
diesen geht hervor, dass die Landes-Organisation Vorfälle sexueller Gewalt an Kindern zwischen 1950
bis 2014 aufgezeichnet hat: 1006 Mitglieder der Zeugen Jehovas haben an vermutlich 1800 Kindern
der Gemeinschaft sexuelle Gewalt verübt. Im Zusammenhang mit der Untersuchung durch die Royal
Commission räumten die Zeugen Jehovas Australien zudem die systematische Vernichtung von Dokumenten
über den Missbrauch Minderjähriger ein.83
Am 28. November 2016 veröffentlichte die Royal Commission den Bericht zu den Untersuchungen.
Der Bericht stellt den Zeugen Jehovas Australien das denkbar schlechteste Zeugnis aus. Von den 1006
mutmasslichen Tätern wurde kein einziger den Behörden gemeldet, mit der Folge, dass sich viele
weiterhin an Kindern vergingen.
Die Royal Commission kann keine Urteile fällen, sie hat aber mehr als 700 Fälle den Behörden gemeldet.
Über die Untersuchung der Royal Commission wurde in den Medien breit berichtet, auch über
Australien hinaus. Die Entschädigungen, welche die Wachtturm-Organisation zu zahlen hat, dürften
für die Organisation eine Herausforderung darstellen.84 Die Kommission setzt ihre Untersuchungen
am 10. März 2017 fort85, dies, weil die Ergebnisse einen so alarmierenden Umgang der WachtturmOrganisation
mit sexuellem Kindesmissbrauch in den eigenen Reihen offenbaren.86
82 Australian Royal Commission, Oktober 2016, „Report of the Case Study No. 29. The response of the Jehovah’s
Witnesses and Watchtower Bible and Tract Society of Australia Ltd to allegations of child sexual abuse”, publiziert
auf der Website der Royal Commission into Institutional Responses to Child Abuse:
www.childabuseroyalcommission.gov.au/case-study/10908a67-70c5-4103-94cc-dac096fdb585/case-study-54,-march-2017,-sydney (Zugriff: 29. Januar 2017)
83 Beitrag bei Radio Vatikan vom 27. Juli 2015, „Australien: Missbrauchsvertuschung bei Zeugen Jehovas“:
de.radiovaticana.va/news/2015/07/27/australien_missbrauchs-vertuschung_bei_zeugen_jehovas/1161112 (Zugriff:
29. Januar 2017)
84
S. Artikel bei jwsurvey.org vom 8. April 2016, „Royal Commission findings: Jehovah’s Witness elders left abuse
survivors ‘silenced and unsupported'”:
jwsurvey.org/child-abuse-2/royal-commission-findings-jehovahs-witness-elders-left-abuse-survivors-silenced-andunsupported
(Zugriff: 29. Januar 2017)
85 Case Study 54, March 2017, Sidney:
www.childabuseroyalcommission.gov.au/case-study/10908a67-70c5-4103-94cc-dac096fdb585/case-study-54,-march-2017,-sydney (Zugriff: 29. Januar 2017)
86 Artikel von John Redwood bei jwsurvey.org vom 15. November 2016, „Australian Royal Commission puts Watchtower
back under microscope”:
jwsurvey.org/child-abuse-2/australian-royal-commission-puts-watchtower-back-under-microscope (Zugriff: 29.
Januar 2017)
23
5.2. Wichtige Erkenntnisse aus der Untersuchung
Am 28. November 2016 veröffentlichte die Royal Commission ihren Bericht zur Untersuchung. Eine
Analyse des Schlussberichts verfasste John Redwood von jwsurvey.org, auf Deutsch übersetzt durch
Will Cook.
87
Glaubensüberzeugungen und Missbrauch
Die Untersuchung der Royal Commission zeigte auf, dass grundlegende Glaubensüberzeugungen und
Praktiken der Zeugen Jehovas im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch von Bedeutung sind.
So trägt die patriarchale und stark hierarchische Struktur innerhalb der Gemeinschaft zu einer geschwächten
Position von Frauen und Mädchen bei (S.18). Auch die Vorstellung, dass biblisches Gesetz
über dem weltlichen stehe, spielt im Zusammenhang mit dem Nicht-Anzeigen von Kindesmissbrauch
eine wichtige Rolle (S.18-19). An verschiedenen Stellen des Berichts wurde ausserdem darauf
hingewiesen, dass die Trennung von der Welt eine grosse Rolle dabei spielt, dass sich Opfer sexuellen
Kindesmissbrauchs nur schlecht zur Wehr setzen können. Das wird u.a. im Fallbeispiel von BCG
deutlich (S.30, Übersetzung durch R.S.):
BCG sagte der Royal Commission, dass es ihr nicht erlaubt war, mit Menschen ausserhalb der Gemeinschaft
der Zeugen Jehovas Umgang zu pflegen. Sie sagte, ihr sei von frühestem Alter an gesagt worden,
dass ‚weltliche Menschen‘, auch die Polizei, schlecht seien und man ihnen nicht trauen könne, weil sie
Satan dienten. Weil die Organisation davon abriet, erlaubten die Eltern BCG nicht, den Sexualkundeunterricht
zu besuchen oder an ausserschulischen Aktivitäten wie Sport teilzunehmen. BCG sagte, dass sie
die Schule nur bis zur zehnten Klasse besuchen durfte, weil höhere Bildung über Jehova zu stellen von
der Wachtturm-Organisation missbilligt wurde.
Das geht auch aus folgendem Abschnitt hervor. Zum Zeitpunkt, als BCG gegenüber der Royal Commission
aussagte, war sie schon länger nicht mehr Mitglied der Organisation und absolvierte das
letzte Jahr eines Rechtsstudiums (S.57, Übersetzung R.S.):
BCB sagte, dass sie sich auf extreme Weise zur Überzeugung gedrängt fühlte (felt brainwashed into
believing), dass das Sprechen mit „weltlichen“ Menschen Schande über Jehovas Namen bringe. BCB
sagte, dass sie in der Folge des Berichtens ihrer Geschichte vor der Royal Commission mit schweren
Schuldgefühlen kämpfe, weil sie Jehovas Organisation hintergehe und Jehovas Namen durch den
Schmutz ziehe.
Fakten aus der Aktenanalyse
Im 6. Kapitel des Berichts geht es um Ergebnisse, die aus der Aktenanalyse hervorgehen. Der Bericht
hält fest, dass es sich um 1006 mutmassliche Täter handelt.
Unter „Other Data“ werden weitere wichtige Daten zusammengefasst (S. 58-59), die sich aus der
Analyse der Akten ergeben (hier in der Übersetzung durch Will Cook und R.S.):
Die Analyse der Akten der Wachtturm-Organisation zeigte auf, dass:
• sich die Beschuldigungen, Berichte oder Beschwerden, welche die Organisation erhalten hat, auf mindestens
1800 mutmassliche Opfer von sexuellem Kindesmissbrauch beziehen;
87 Artikel von John Redwood bei jwsurvey.org vom 28. Nov. 2016, „News Bulletin: Australian Government Issues
Report Condemning Jehovah’s Witnesses’ Sexual Abuse Policies”:
jwsurvey.org/child-abuse-2/news-bulletin-australian-government-issues-report-condemning-jehovahs-witnessessexual-abuse-policies
(Zugriff: 29. Januar 2017)
Deutsche Übersetzung von Will Cook, ohne Datum, infoSekta, FB-Post vom 28. Dezember 2016:
www.facebook.com/infosekta/posts/1919131194985520 (Zugriff: 29. Januar 2017)
24
• 579 Täter, gegen die Vorwürfe erhoben wurden, gestanden, sexuellen Kindesmissbrauch begangen zu
haben;
• von den 1006 Tätern, gegen die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs von Kindern vorgebracht wurden,
waren zum Zeitpunkt des ersten mutmasslichen Missbrauchs 108 Älteste oder Dienstamtgehilfen;
• 28 mutmassliche Täter wurden zum Ältesten oder Dienstamtgehilfen ernannt, nachdem ein Vorwurf
des sexuellen Missbrauchs von Kindern gegen sie erhoben worden war;
• 401 mutmassliche Täter wurden aufgrund eines Vorwurfs des sexuellen Kindesmissbrauchs ausgeschlossen,
und 230 dieser mutmasslichen Täter wurden später wieder aufgenommen;
• von den ausgeschlossenen Personen wurden 78 wegen Kindesmissbrauchs wiederholt und erneut mit
der Begründung des sexuellen Missbrauchs von Kindern ausgeschlossen;
Häufigkeit von Rückmeldungen zu Kindesmissbrauch – Meldung bei Behörden
In Kapitel 6 befasst sich der Bericht ab S. 59 mit der Häufigkeit von Meldungen an die Landeszentrale
bezüglich Kindesmissbrauch. Der Anwalt Vincent Tool sagte aus, dass er monatlich „drei, manchmal
vier Anrufe“ zu Vorfällen von Kindesmissbrauch erhielt. Diese Zahl stimme, heisst es in dem Bericht,
mit der Häufigkeit der Rückmeldungen, welche in den internen Aufzeichnungen festgehalten sind,
überein.
Keiner dieser der Organisation rückgemeldeten Fälle von Kindesmissbrauch ist durch die Organisation
zur Anzeige gekommen, heisst es auf S. 60. Bei allen 383 mutmasslichen Tätern, welche den Behörden
oder der Polizei gemeldet wurden, geschah dies ohne Zutun der Wachtturm-Organisation.
161 dieser von der Organisation registrierten Täter wurden wegen Formen von Kindesmissbrauch
schliesslich verurteilt.
Es gebe, so kommt die Kommission zum Schluss, keine Vorgaben der Organisation, dass Kindesmissbrauch
Behörden gemeldet werden soll – weder wo der Missbrauch stattfand, noch ob das Kind oder
weitere Kinder künftig gefährdet sind. Es gebe auch keinerlei Massnahmen zum Schutz des betroffenen
Kindes (S. 61).
Die Kommission hält ausserdem fest, dass es in Australien eine Anzeigepflicht bei sexuellem Kindesmissbrauch
gibt. Diese Anzeigepflicht könne auch in jenen australischen Gliedstaaten, die den Schutz
des Beichtgeheimnisses (religious confession) kennen, nicht generell mit Bezug auf dieses Gesetz
umgangen werden. Wenn das Opfer oder seine Familie sich an die Ältesten wenden wegen sexuellem
Kindesmissbrauch, handle es sich nicht um eine Beichte (religious confession). Und auch in vielen
Fällen, wo Älteste durch die Täter von deren Taten erführen, geschehe dies nicht in einem Kontext, in
welchem das Gesetz zum Beichtgeheimnis Anwendung finde (S. 63).
Sanktionen und Risikomanagement
Der Bericht hält fest, dass ein Täter, ob ausgeschlossen oder da Reue zeigend in der Versammlung
verbleibend, sich in jedem Fall weiterhin innerhalb der Versammlung und/oder (politischen) Gemeinde
bewegt – ohne dass irgendwelche Stellen informiert würden (S. 68). Bezüglich der vorsorglichen
Massnahmen hält der Bericht fest, dass weder Ermahnung noch Ausschluss des Täters aus der
religiösen Gemeinschaft effektive Mechanismen darstellen, um Kinder in der Versammlung und der
weiteren Umgebung (broader community) zu schützen (s. dazu auch das unten dargestellte nächste
Kapitel des Berichts). Die überwiegende Mehrheit der Täter, die nicht aufgrund eines zweiten Augenzeugen
überführt werden oder nicht von sich aus die Tat gestehen, sind weder von Sanktionen betroffen
noch wird auf sie ein Risikomanagement angewandt.
25
5.3. Royal Commission benennt problematische Richtlinien und Praktiken
Der Royal Commission wurde eine Vielzahl von Missbrauchsfällen innerhalb der Zeugen Jehovas
rückgemeldet. Die Fälle zweier Frauen (im Bericht BCB und BCG genannt) hat sie detailliert untersucht
und dargestellt. Von der Kommission befragte Älteste hatten u.a. mit diesen konkreten Missbrauchsfällen
zu tun. Unter Heranziehung dieser Fallbeispiele hat die Royal Commission aufgezeigt,
wie die Richtlinien der Organisation im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch zur Anwendung kommen.
Neben der generellen Praxis, sexuellen Kindesmissbrauch nicht anzuzeigen (S.61), nennt die Royal
Commission weitere problematische Richtlinien und Praktiken.
Zwei-Zeugen-Regel
Die Zwei-Zeugen-Regel, so heisst es im australischen Bericht auf S. 65, werde innerhalb der Wachtturm-Organisation
weiterhin angewandt, auch in Fällen von sexuellem Kindesmissbrauch. Das sei
falsch. Der Umstand, dass sich Anschuldigungen zu sexuellem Kindesmissbrauch meistens als zutreffend
erweisen würden, werde selbst in der Wachtturm-Literatur zu dem Thema reflektiert – was
sowohl Geoffrey Jackson zugegeben habe als auch der ebenfalls befragte Rodney Spinks, der innerhalb
des australischen Bethels für Untersuchungen im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch zuständig
ist.
Die Zwei-Zeugen-Regel, so heisst es im Bericht weiter (S. 65), funktioniere in den meisten Fällen im
Sinne des Täters, der dadurch nicht nur einer Strafe entgehe, sondern auch innerhalb der Versammlung
und der weiteren Gesellschaft verbleibe. Dadurch begegne er weiterhin seinen Opfern und stelle
auch für andere Kinder eine Gefahr dar. Ausserdem heisst es im Bericht (S. 65, Übersetzung R.S.):
Eine von Kindesmissbrauch betroffene Person, deren Aussagen nicht durch ein Geständnis des Täters
oder eines zweiten ‚glaubwürdigen‘ Zeugen bestätigt wird, befindet sich dadurch in einer völlig wehrlosen
Situation und wird weiter traumatisiert. Ein Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs in eine solche Situation
zu bringen, ist heute, und war auch schon vor 30 Jahren, inakzeptabel und falsch.
Organisationen müssten, so die Royal Commission weiter, im Interesse des Kindeswohles ihr Vorgehen
und ihre Vorgaben im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch immer wieder überprüfen. Im Falle
der Zwei-Zeugen-Regel komme aber eine Regel zur Anwendung, die vor 2000 Jahren formuliert worden
sei von einer Organisation, die im späten 19. Jahrhundert gegründet worden war.
Die Kommission fordert, dass zumindest im Falle von Kindesmissbrauch die Wachtturm-Organisation
die Zwei-Zeugen-Regel abschaffe.
Konfrontation mit Täter, Befragung durch Männer, keine Unterstützungsperson
Als „unvermeidlich traumatisierend“ bezeichnet die Kommission im Bericht ausserdem die Praxis,
dass Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs bei der Befragung durch das Rechtskomitee dem Täter gegenübertreten
müssten (S. 64). Aus den Aussagen der befragten Zeugen Jehovas-Vertreter und den
vorgelegten internen Dokumenten werde nicht klar, ob eine solche Konfrontation mit dem Täter von
Opfern sexuellen Kindesmissbrauchs verlangt werde oder nicht. Es müsste aber aus den organisationalen
Vorgaben klar und deutlich hervorgehen, dass (auch erwachsene) Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs
im Rahmen von Abklärungen nicht mit dem Täter konfrontiert werden.
Die Royal Commission kritisiert ausserdem den Umstand, dass die Befragungen der meist weiblichen
Opfer ausschliesslich von (männlichen) Ältesten durchgeführt werden. Auch das könne Betroffene
weiter traumatisieren (S. 66-67).
26
Schliesslich hält die Royal Commission fest, dass Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs unbedingt eine
Vertrauensperson zur Unterstützung bei der Befragung dabei haben müssten. Jedes interne Disziplinarsystem
einer Organisation, welches sich mit sexuellem Kindesmissbrauch befasse, müsse opferfokussiert
sein, heisst es in dem Bericht (S. 67). Aktuell sei jedoch nicht klar, ob eine betroffene Person
eine oder mehrere Personen zu ihrer Unterstützung dabei haben dürfe. Das sollte, so die Kommission,
künftig klar geregelt sein (S. 68).
Ausschluss und Ächtung als Disziplinierungsmittel
Aus dem Bericht geht hervor, dass BCG den Ausschluss fürchtete bzw. mit diesem bedroht wurde,
falls sie Anzeige erstatte (S. 47, Übersetzung R.S.):
BCG hatte zeitweise Befürchtungen, geächtet, gemieden und von ihrer Umgebung verunglimpft zu werden.
Sie sagte, dass sie immer in Angst vor ihrem Vater und vor Jehova gelebt habe.
Als BCG schliesslich später mit ihren Kindern die Gemeinschaft verliess, wurde sie total geächtet (S.
70).
Senior Counsel Angus Stewart fragte während der Vernehmung eines Ältesten: „Ist es nicht so, dass
niemand vor die Wahl gestellt werden sollte, entweder in der Organisation zu bleiben, die den Täter
deckt, oder seine Familie und sein soziales Netz zu verlieren?“88
Die Royal Commission hält entsprechend im Schlussbericht fest, dass die mit dem Ausscheiden aus
der Organisation einhergehende Ächtung es für Menschen allgemein extrem schwer mache, die Organisation
zu verlassen. Und dass diese Praxis für Personen, die von sexuellem Kindesmissbrauch
betroffen sind, besonders schwerwiegende Folgen habe (S. 72, Übersetzung R.S.):
(Die Praxis der Ächtung) kann zerstörerisch sein für jene, die als Kind innerhalb der Organisation sexuellen
Missbrauch erlebt haben und die Organisation verlassen möchten, weil sie finden, es sei nicht angemessen
auf ihre Klagen reagiert worden oder weil der Täter in der Versammlung verbleibt.
5.4. Fazit der Royal Commission
Im 10. Kapitel geht es um die abschliessende Beurteilung der australischen Wachtturm-Organisation
im Umgang mit sexuellem Kindesmissbrauch. Diese soll im Wortlaut der Kommission widergegeben
werden (S .77, Übersetzung durch Will Cook und R.S.):
Unter Berücksichtigung der verschiedenen Aspekte, die in diesem Bericht besprochen wurden, sind wir
bezüglich des Umgangs der Wachtturm-Organisation mit sexuellem Kindesmissbrauch zu folgenden generellen
Schlussfolgerungen gelangt:
Wir halten die Wachtturm-Organisation nicht für eine Organisation, die adäquat auf sexuellen Missbrauch
von Kindern reagiert. Wir glauben aus den folgenden Gründen nicht, dass Kinder angemessen
vor dem Risiko sexuellen Missbrauchs geschützt werden:
Die Organisation stützt sich im Umgang mit Vorwürfen von sexuellem Kindesmissbrauch auf veraltete
Richtlinien und Praktiken (policies and practices). Diese Richtlinien und Praktiken unterliegen keiner
laufenden und kontinuierlichen Überprüfung. Diese Richtlinien und Praktiken sind im Grossen
und Ganzen völlig unangemessen und ungeeignet für die Anwendung in Fällen von sexuellem Kindesmissbrauch.
Das Bestehen der Organisation auf und die fortgesetzte Anwendung von Richtlinien
wie die Zwei-Zeugen-Regel in Fällen von sexuellem Kindesmissbrauch zeigen einen ernsthaften
Mangel an Verständnis für die Natur sexuellen Missbrauchs von Kindern.
88 Artikel aus News.com vom 5. August 2015, übersetzt durch infoSekta:
www.facebook.com/infosekta/posts/1699685666930075 (Zugriff: 29. Januar 2017)
27
Das interne Disziplinarsystem der Organisation für die Behandlung von Klagen zu sexuellem Kindesmissbrauch
ist, indem Männer das Verfahren leiten und das Opfer wenig oder keine Wahl hinsichtlich
der Behandlung seiner Beschwerde hat, weder kind- noch opferfokussiert.
Die der Organisation innerhalb des internen Disziplinarsystems zur Verfügung stehenden Sanktionen
sind schwach und belassen die Täter sexuellen Kindesmissbrauchs meistens in der Organisation und
in der (politischen) Gemeinde (community).
Bei der Entscheidung über die Sanktionen und/oder Vorsichtsmassnahmen bezüglich eines bekannten
oder mutmasslichen Täters berücksichtigt die Organisation die Möglichkeit, dass von diesem Tä-
ter erneut eine Gefahr ausgehen könnte, nur in unzureichender Weise. Dies zeigt einen ernsten
Mangel an Verständnis für die Natur und die Folgen sexuellen Kindesmissbrauchs.
Die allgemeine Praxis der Organisation, schwere Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch nicht der Polizei
oder den Behörden zu melden, insbesondere wenn die betroffene Person (complainant) ein
Kind ist, zeigt die schwerwiegende Unterlassung der Organisation, die Sicherheit und den Schutz der
Kinder in der Organisation und in der Gesellschaft (community) zu gewährleisten.
Die Untersuchung der Royal Commission stellt der Wachtturm-Organisation ein bedenkliches Zeugnis
aus. Die Organisation ist aufgrund der von ihr vorgegebenen Regeln und Praktiken nicht in der Lage,
Kinder in den eigenen Reihen zu schützen.
Aufgrund der Schwere und Systematik der Versäumnisse der Wachtturm-Organisation Australien
führt die Royal Commission ihre Untersuchungen im Rahmen eines neuen Verfahrens im März 2017
weiter (Case Study 54).
89
6. Aktuelle Situation
Vor den Anhörungen der Royal Commission im Juli und August 2015 galten für die Ältesten in Sachen
Vorgehen bei Kindesmissbrauch die Weisungen des Briefes an die Ältesten vom 1. Oktober 2012.
Dabei ist anzumerken, dass diese Weisungen an die Ältesten immer weltweit erfolgen, d.h. für jedes
Land gelten. Am 1. August 2016 gab es einen neuen Brief an die Ältesten, welcher denjenigen von
2012 ersetzt. Diese neuen Weisungen scheinen eine Reaktion auf die Untersuchung durch die Royal
Commission zu sein und ein Versuch, Massnahmen zum besseren Schutz der Kinder zu implementieren.
6.1. Jüngste Anweisungen an die Ältesten zum Thema Kindesmissbrauch
Der Brief an die Ältesten vom 1. August 2016 wird von John Redwood analysiert, im Artikel integriert
gibt es ausserdem einen Video-Beitrag von Lloyd Evans zum gleichen Thema: Die Neuerungen, welche
diese Weisungen bringen, und was sie in Bezug auf den besseren Schutz der Kinder innerhalb der
Organisation taugen. Im Artikel integriert finden sich auch die Links auf die beiden Briefe an die Ältesten.90
89 Australian Royal Commission, Oktober 2016, „Report of the Case Study No. 29. The response of the Jehovah’s
Witnesses and Watchtower Bible and Tract Society of Australia Ltd to allegations of child sexual abuse”, publiziert
auf der Website der Royal Commission into Institutional Responses to Child Abuse:
www.childabuseroyalcommission.gov.au/case-study/10908a67-70c5-4103-94cc-dac096fdb585/case-study-54,-march-2017,-sydney (Zugriff: 29. Januar 2017)
90 S. dazu den Artikel von John Redwood von jwsurvey.org vom 4. August 2016, „NEWS BULLETIN: Watchtower Releases
Updated Child Abuse Directive to Elders; Lack of Adequate Policy Change Continues To Endanger Jehovah’s
Witness Minors”:
jwsurvey.org/child-abuse-2/news-bulletin-watchtower-releases-updated-child-abuse-directive-to-elders-lack-ofadequate-policy-change-continues-to-endanger-jehovahs-witness-minors
(Zugriff: 29. Januar 2017)
Video-Beitrag im Artikel von Lloyd Evans, „New Child Abuse Letter – Cedars' vlog no. 126”:
www.youtube.com/watch?v=D58G6U_tb7E (Zugriff: 29. Januar 2017)
28
Anzeige durch Opfer „erlaubt“
Ein wichtiger Punkt der aktuellen Weisungen vom 1. August 2016 ist der Umstand, dass den Opfern
von sexuellem Missbrauch bzw. ihren Eltern explizit das Recht eingeräumt wird, sich an Behörden zu
wenden. Bisher wurde Eltern oder Opfern, die sich im Fall von Missbrauch an die Behörden wandten,
immer wieder unterstellt, sie würden den mutmasslichen Täter verleumden – gerade wenn seine
„Schuld“ durch das Rechtskomitee infolge der Zwei-Zeugen-Regel nicht festgestellt werden konnte.
Das hatte nach Lloyd Evans zur Folge, dass das Anzeigen von Kindesmissbrauch stark stigmatisiert
war.
Allerdings weisen sowohl Redwood als auch Evans darauf hin, dass in diesen neusten Anweisungen
die Ältesten nicht angehalten werden, den Missbrauch selbst anzuzeigen oder den Betroffenen
dazu zu raten. Dies sei, so Evans, besonders deshalb von Bedeutung, weil bei den Zeugen Jehovas
eine ausgeprägt hierarchische Kultur herrsche, wonach die Ältesten, denen die Leitung obliegt, die
Vorgaben machten.
In einem jüngsten Artikel äussert sich Redwood zu dem von Wachtturm-Vertretern häufig benutzten
Ausdruck „absolute right" der Opfer bzw. ihrer Familien, sich an die Behörden oder Polizei zu wenden.91
Es wird dem Opfer ein Recht gewährt, das ihm ohnehin zusteht. Das macht deutlich, wie stark
die eigene interne Rechtsstruktur ausgebildet ist. Redwood weist ausserdem darauf hin, dass die
Ältesten immer auch gehalten sind, auf keinen Fall den Ruf der Organisation zu gefährden (Übersetzung
durch Will Cook und R.S.):
( … ) Wachtturmanwälte (verwenden) häufig den Begriff "absolutes Recht" bei der Beschreibung ihres
Vorschlags an die Opfer, sich mit Missbrauchsanzeigen selbst auseinanderzusetzen.
Das ist eine Praxis, die darauf abzielt, lediglich den Anschein zu erwecken, dass man sich für Opferrechte
engagiert, tatsächlich aber darauf bedacht ist, eigene Anstrengungen und Initiativen, etwas im Berichtsprozess
unternehmen zu müssen, zu vermeiden.
Brief an die Ältesten vom 1. Oktober 2012 im Artikel integriert, hier abrufbar:
drive.google.com/file/d/0BwqmWMK7dwtlQTNGT0xtMVo2cEk/view (Zugriff: 29. Januar 2017)
Brief an die Ältesten vom 1. August 2016 im Artikel integriert, hier abrufbar:
drive.google.com/file/d/0BwqmWMK7dwtlVktSOFZYcTVROVk/view (Zugriff: 29. Januar 2017)
91 Artikel von John Redwood bei jwsurvey.org vom 3. Februar 2017, „Breaking News: Jury Selection Complete in Fessler
Versus Watchtower Child Abuse Case – Trial Date Set”:
jwsurvey.org/child-abuse-2/breaking-news-jury-selection-complete-in-fessler-versus-watchtower-child-abusecase-trial-date-setns-henning-koch/8386/geschworenenliste-vollstandig-neuer-gerichtsfall
(Zugriff: 7. Februar
2017)
Deutsche Übersetzung von Will Cook:
docs.com/hans-henning-koch/8386/geschworenenliste-vollstandig-neuer-gerichtsfall (Zugriff: 7. Februar 2017)
Artikel von John Redwood bei jwsurvey vom 12. Februar 2017, „News Bulletin: Fessler versus Watchtower – Opening
Statements and Motions in Jehovah’s Witness Child Abuse Trial – Day 1”:
jwsurvey.org/child-abuse-2/news-bulletin-fessler-versus-watchtower-opening-statements-and-motions-injehovahs-witness-child-abuse-trial-day-1
(Zugriff: 15. Februar 2017)
Artikel von John Redwood bei jwsurvey.org vom 19. Februar 2017, „Breaking News: Watchtower’s Defense Collapses,
Jehovah’s Witnesses Reproved For Failure to Report Child Abuse – Settlement with Fessler Reached”:
jwsurvey.org/child-abuse-2/breaking-news-watchtowers-defense-collapses-jehovahs-witnesses-reproved-forfailure-to-report-child-abuse-settlement-with-fessler-reached
(Zugriff: 28. Februar 2017)
Artikel von John Redwood bei jwsurvey.org vom 28. Februar 2017, „News Bulletin: Fessler prevails in Jehovah’s
Witness child abuse trial, elder says: I learned clergy privilege watching TV, admits shredding files:
jwsurvey.org/child-abuse-2/news-bulletin-fessler-prevails-jehovahs-witness-child-abuse-trial-elder-says-learnedclergy-privilege-watching-tv-admits-shredding-files
(Zugriff: 28. Februar 2017)
29
Es ist diese Strategie, die letztendlich zu der Unterlassung von Anzeigen in Missbrauchsfällen geführt
hat. Die meisten Opfer und ihre Familien sind so durch den Missbrauch traumatisiert, dass sie in aller
Regel Abstand davon nehmen, sich an die zuständigen Behörden und die Polizei zu wenden.
Ein weiterer Grund, warum es nicht zu Meldungen kommt, liegt darin, dass die Ältesten die Zeugen Jehovas
regelmässig ermahnen, nichts zu tun, was "dem Namen Jehovas Unehre“ bereiten könnte. Eine
Strategie und bekannte Politik der Zeugen Jehovas, die in erster Linie den Ruf der Organisation schützen
sollen und nicht der Sorge für die Opfer dienen.
Missbrauch der Zentrale melden und weiterhin Zwei-Zeugen-Regel
Im Brief wird unter Punkt 5 („rechtliche Überlegungen“) ausserdem darauf hingewiesen, dass in
manchen Rechtsprechungen Kindesmissbrauch angezeigt werden müsse. In Abschnitt 7 heisst es, die
Rechtsabteilung gebe Auskunft unter dem Gesichtspunkt des „anzuwendenden Gesetzes“.
Mit anderen Worten: Missbrauch soll nur dann angezeigt werden, wenn die jeweilige Rechtsprechung
das verlangt – und nicht in jedem Fall. Evans versteht das als weiteren Versuch der Wachtturm-Organisation,
Schlupflöcher zu nutzen, um so eine Anzeige zu umgehen.
Im ganzen Brief wird die Nennung der Zwei-Zeugen-Regel vermieden, dennoch basieren die Anweisungen
weiterhin auf dieser. So heisst es z.B. in Abschnitt 5, zwei Älteste sollten die Rechtsabteilung
kontaktieren, um sicherzustellen, dass sie den lokalen Meldepflichten im Zusammenhang mit Kindesmissbrauch
entsprächen. Das sollten sie auch machen, wenn es nur einen Zeugen gebe.
Es wird also, wie Evans und Redwood feststellen, weiterhin auf der Zwei-Zeugen-Regel bestanden.
Weiterhin soll zudem in allem immer zuerst die Rechtsabteilung der Zeugen Jehovas konsultiert
werden – und nicht etwa als erstes die Behörden informiert.
Weiterhin Praxis der internen Befragung, Jugendliche in Begleitung – professionelle
Hilfe falls gewünscht
In Abschnitt 11 geht es um den „spirituellen Beistand von Opfern“. Unter anderem heisst es, es solle
darauf geachtet werden, dass wenn es sich beim Opfer um eine minderjährige Person handle, diese
nicht von Ältesten alleine befragt werde, sondern möglichst ein Elternteil zugegen sei oder eine
andere Vertrauensperson. Weiter heisst es, sei es auch möglich, dass das Opfer andere Unterstützung
in Anspruch nehmen möchte, z.B. durch Fachpersonen aus dem Gesundheitsbereich. Auch hier
heisst es, es stehe den Betroffenen frei, solche Hilfe zu nutzen.
Wiederum werden Älteste nicht angewiesen, zu tun, was in dieser Situation angezeigt wäre, nämlich
Opfer sexuellen Missbrauchs an professionelle Hilfsangebote zu verweisen. Die Anweisung, Minderjährige
nicht alleine zu befragen, dürfte nach Evans eine Folge der Untersuchung der Royal Commission
sein. Diese kritisierte die Praxis der Befragung von (minderjährigen) Opfern durch mehrere
Älteste, oft in Anwesenheit des Täters. Redwood weist in seinem Artikel auf wissenschaftliche Befunde
hin, die zeigen, welch grossen Schaden solche Befragungen bei Opfern zusätzlich anrichten
können. Diese Praxis der Befragung des Opfers bleibt bestehen. Ein Opfer wird, wenn es den Missbrauch
benennt, durch zwei Älteste der Versammlung befragt.
Weiterhin Zwei-Zeugen-Regel – Opfer muss jedoch nicht mehr vor Täter aussagen
Thema des Abschnitts 13 ist die „Untersuchung der Anschuldigungen“. Dabei sei strikt nach biblischen
Anweisungen wie im 5. Kapitel des Hütet-die-Herde-Buchs beschrieben vorzugehen. Danach
ist, wenn der Beschuldigte die Tat bestreitet, nach der Zwei-Zeugen-Regel vorzugehen. Es wird darauf
hingewiesen, dass das Opfer seine Anschuldigungen nicht in Anwesenheit des Beschuldigten
30
vorbringen solle. Sollte es sich um „den seltenen Fall“ eines minderjährigen Opfers handeln, welches
die Ältesten befragen müssten, sollten sie zuerst die Dienstabteilung kontaktieren.
„Präventive Massnahmen“: Kein Schutz der Kinder in der Versammlung
In Abschnitt 14 heisst es, dass bei genügend „schriftbasierter Evidenz“ ein Rechtskomitee zusammenzustellen
sei. Der Ausdruck „schriftbasierte Evidenz“ bedeutet, so Lloyd Evans, dass es nach der
Zwei-Zeugen-Regel einen oder zwei weitere Zeugen ausser dem Opfer gibt oder dass der Täter geständig
ist. Wenn das Rechtskomitee zum Schluss komme, dass ein Vergehen vorliege, werde der
Täter, wenn er keine Reue zeige, ausgeschlossen. Falls er bereue, werde er „bezeichnet“. Das solle
der Versammlung mitgeteilt werden, diese Mitteilung diene als Schutz der Versammlung.
Das ist bei der Massnahme der Bezeichnung jedoch nicht der Fall, weil, so Lloyd Evans, nicht gesagt
wird, weshalb jemand bezeichnet worden ist: Ob für wiederholtes Rauchen, Ehebruch oder Kindesmissbrauch.
Abschnitte 15 und 16 behandeln das Vorgehen, wenn ein Mitglied, das wegen Kindesmissbrauch
ausgeschlossen worden ist, wieder aufgenommen werden möchte. Das ganze Prozedere läuft über
die Dienstabteilung der jeweiligen Landeszentrale, die Ältesten haben kaum eigenen Spielraum.
Vielmehr sollen sie, heisst es in Abschnitt 17, die Anweisungen der Dienstabteilung im Zusammenhang
mit Personen, die eine Sexualstraftat an Kindern begangen haben, genau befolgen. Die Ältesten
sollen die (des Kindesmissbrauchs für schuldig befundene) Person darauf hinweisen, dass sie nicht
alleine mit Minderjährigen sein soll, keine Freundschaften zu Minderjährigen pflegen oder Minderjährigen
gegenüber keine Zuneigung zeigen soll (Abschnitt 18). Wenn die Dienstabteilung es für nötig
befinde, könnten in manchen Fällen auch Eltern von Kindern durch die Ältesten informiert werden.
Ein Sexualstraftäter, möglicherweise einer, der für seine Taten nie vor ein Gericht kam, weil er von
einem Rechtskomitee der Zeugen Jehovas ausgeschlossen anstatt angezeigt wurde, soll nun also von
Ältesten darauf aufmerksam gemacht werden, dass er sich von Kindern fernhalten soll. Auch diese
„Massnahme“ erscheint absolut unangemessen und dürfte meistens völlig wirkungslos sein, so
Redwood und Evans. Wiederum haben Älteste keinen Handlungsspielraum, sondern müssen ausführen,
was die Dienstabteilung vorschreibt.
Keine Privilegien mehr für Personen, die Kind missbraucht haben
In Abschnitt 19 heisst es, dass ein Mitglied, das Kinder sexuell missbraucht hat, für viele Jahre, wenn
nicht für immer, nicht mehr für Privilegien in Frage komme. Mit Privilegien sind Aufgaben gemeint,
welche Personen, die als vorbildlich gelten, übernehmen dürfen.
Dies im Unterschied zum Ältesten-Brief 2012, so Evans, in welchem es hiess, man könne nicht
sagen, dass jemand, der ein Kind missbraucht hat, nie mehr für solche Aufgaben in der Versammlung
in Frage komme („It cannot be said in every case that one who has sexually abused a child could never
qualify for privileges of service in the congregation.“) Wenn sehr lange Zeit nach dem Missbrauch
in Erwägung gezogen werde, dass die Person kleinere Aufgaben übernehmen könnte, wie das Reichen
des Mikrofons, solle die Dienstabteilung konsultiert werden. Evans beurteilt diese Neuerung
grundsätzlich als positiv, weil jetzt nicht mehr, wie das bislang der Fall war, Missbrauchstäter in Ämter
gewählt werden können.
Allerdings, dazu äussert sich Lloyd Evans nicht, scheint diese neue Regelung ja nur Personen zu betreffen,
die von der internen Gerichtsbarkeit der Wachtturm-Organisation für schuldig befunden
wurden. Besonders befremdlich erscheint in diesem Abschnitt deshalb die Begründung für diese
neue strengere Regelung: Es sei, wird aus einem Wachtturm-Artikel vom 1. Januar 1997 zitiert, häu-
31
fig, dass Personen, die sich an Kindern vergangen hätten, das wieder tun würden. Genau das ermöglichen
die Zwei-Zeugen-Regel und die kaum wirksamen präventiven Massnahmen.
„Präventive Massnahmen“: Kein Schutz der Kinder anderer Versammlungen und in
der Nachbarschaft
Informationen über eine Person, die des Kindesmissbrauchs angeschuldigt wurde (ob bewiesen
oder nicht), sollten in der Versammlung vertraulich aufbewahrt werden, heisst es in Abschnitt 20.
Wenn eine Person, die des Missbrauchs beschuldigt wurde (ob bewiesen oder nicht), in eine andere
Versammlung zieht, sollte die Rechtsabteilung durch zwei Älteste kontaktiert werden (Abschnitt 21).
Wiederum ist es diesen untersagt, von sich aus die neue Versammlung zu informieren.
Wenn Älteste erfahren, dass eine Person, die des Kindesmissbrauchs beschuldigt wird (ob bewiesen
oder nicht) in ihre Versammlung zieht, dann sollten sie ebenfalls die Rechtsabteilung kontaktieren
(Abschnitt 22). Wenn die des Missbrauchs beschuldigte Person ausgeschlossen ist und in der Umgebung
der Versammlung lebt, sollte ihre Wohnung oder ihr Haus als auszulassend bezeichnet
werden. Das gleiche gilt, wenn die Versammlung durch Behörden informiert wird, dass ein Sexualstraftäter
in die Umgebung der Versammlung zieht (Abschnitt 23).
Evans weist darauf hin, wie naiv und fahrlässig das ist. Auf den Plänen für die Haustürmission, sind
verschiedene Wohnungen und Häuser als auszulassende bezeichnet, meist weil die Bewohner zuvor
gesagt hatten, sie wünschten keine weiteren Besuche. Es komme immer wieder vor, dass bei der
Haustürmission versehentlich bei der falschen Türe geklingelt werde. Die Vorstellung, dass zwei Jugendliche
versehentlich an der Tür eines Sexualstraftäters klingeln, sei beängstigend. Auch diese
„Massnahmen“ zum Schutz von Kindern und Jugendlichen ist absolut ungenügend.
Keine Unterscheidung zwischen Kindesmissbrauch und Sex zwischen Minderjährigen
Abschnitt 24 befasst sich mit der Frage, wie vorzugehen sei bei „sexuellem Fehlverhalten“ zwischen
Minderjährigen. In dem Falle handle es sich nicht notwendigerweise um Kindesmissbrauch, dennoch
sei das, unabhängig vom Alter der Betroffenen, ernst zu nehmen und erfordere möglicherweise eine
rechtliche Untersuchung durch die Versammlung. Die Ältesten sollten mit den Eltern „arbeiten“ und
sicherstellen, dass diese den Kindern „spirituellen Beistand“ leisteten. In Abschnitt 25 werden das
Problem des Sexting und seine ernsten Auswirkungen angesprochen. Es sei deshalb wichtig, dass
Eltern die elektronischen Aktivitäten der Kinder überwachten. Wenn getaufte Jugendliche mit Sexting
zu tun hätten, sei es von Bedeutung, dass die Ältesten genau abwägen, ob eine Untersuchung
durch ein Rechtskomitee erforderlich sei.
Es wird in Abschnitt 24 von sexuellem Fehlverhalten bei Minderjährigen gesprochen. Dabei ist
nicht klar, ob es um die Situation geht, dass ein 17-Jähriger einer 12-Jährigen sexuelle Gewalt angetan
hat oder dass zwei 16-Jährige miteinander geschlafen haben. Im ersten Fall handelt es sich um
eine Straftat, die professionelle Hilfe für die 12-Jährige erfordert und eine Anzeige des 17-Jährigen.
Im zweiten Fall um eine Situation, die niemanden etwas anzugehen scheint. Die Vorstellung, dass bei
Jugendlichen im Zusammenhang mit dem Medienverhalten v.a. Überwachung durch die Eltern und
nicht etwa Medienerziehung angezeigt sei, ist ebenso irritierend wie die Vorstellung, dass ein
Rechtskomitee über sexuelle elektronische Inhalte zu richten habe.
Auch hier wird deutlich, was Lloyd Evans betont: Es wird im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch
an Kindern nicht unterschieden zwischen dem, was Zeugen Jehovas als „Sünde“ verstehen
32
und einem Verbrechen.92 Das zeigt sich in dem fliessenden Übergang von (wenig hilfreichen) Anweisungen
im Zusammenhang mit Sexualstraftätern zum Thema Sexualität bei Jugendlichen. Sowohl im
Fall eines Sexualstraftäters als auch im Fall getaufter junger Leute, die eine sexuelle Beziehung haben,
kommt ein Rechtskomitee zum Einsatz.
Anpassungen im Hütet-die-Herde-Buch
In Abschnitt 26 schliesslich heisst es, die Ältesten sollten im 12. Kapitel des Hütet-die-Herde-Buches
die Abschnitte 20-21 streichen. Es geht dabei um das Vorgehen der Ältesten, wenn ein Täter in eine
neue Versammlung zieht. Dieses Vorgehen wird jetzt komplett von der Dienstabteilung der Landeszentrale
vorgegeben, die Ältesten haben keinerlei Handlungsspielraum mehr.
Positiv zu vermerken ist nach Evans, dass bei nicht bereuenden Tätern keine Auskünfte mehr über
das Opfer gegeben werden müssen, wie in der zweiten Hälfte von Abschnitt 21 verlangt (Reife des
Kindes/Jugendlichen, altersgemässes Verhalten des Kindes, Seriosität/Reife von Kind und Eltern,
Konsistenz der Erinnerungen des Kindes, Ruf der Eltern, spiritueller und emotionaler Reifegrad der
Eltern).
6.2. Einschätzung der aktuellen Situation durch eine Rechtsexpertin
Kathleen Hallisey, eine auf Kindesmissbrauch spezialisierte britische Anwältin, welche verschiedene
ehemalige Jehovas Zeugen vertritt und das Urteil im oben zitierten Fall A. erstritten hat, schreibt in
Bezug auf die jüngsten Entwicklungen in der Times93 (Übersetzung R.S.):
Die Evidenz zeigt in die Richtung eines Missbrauchsskandals in der Wachtturm-Organisation in der Grössenordnung
der Katholischen Kirche, von Savile (britischer Entertainer, Anmerkung RS) oder des Fussballverbandes
– dennoch weigert sich die Organisation, dies zu anerkennen oder wirksame Änderungen
in ihren Sicherheitsvorkehrungen vorzunehmen.
Hallisey schreibt, seit der Ausstrahlung der BBC-Dokumentation „Suffer the little children“ 2002 habe
sich wenig verändert. Weiterhin werde nach der Zwei-Zeugen-Regel verfahren, und wenn ein zweiter
Zeuge fehle, werde nichts unternommen. Dabei spiele es nicht einmal eine Rolle, wenn der Täter in
der Vergangenheit ein gleiches Vergehen eingeräumt habe.
Zu den jüngsten Anweisungen an die Ältesten äussert sie sich folgendermassen (Übersetzung R.S.):
Die jüngsten Massnahmen der Organisation zum Schutze der Kinder sehen vor, dass sich die Ältesten im
Fall eines Missbrauchsvorwurfs an die Landeszentrale wenden – anstatt die Polizei zu informieren. Mitglieder
werden ermutigt, den Kontakt mit weltlichen Instanzen, auch der Polizei und dem Rechtssystem,
zu vermeiden. In den meisten Fällen ist es ihnen verboten, einen Mitgläubigen zu einer Gerichtsverhandlung
mitzunehmen, wenn sie es dennoch tun, kann das zum Ausschluss aus der Religionsgemeinschaft,
bekannt als „disfellowshipping“, führen. Eine ausgeschlossene Person wird gänzlich geächtet
(d.h. jeder Kontakt mit ihr ist verboten, Anm. RS), auch von nächsten Familienangehörigen, selbst wenn
92 Lloyd Evans, Video vom 1. März 2016, Jehovah’s Witnesses and child abuse – Is there a problem?
www.youtube.com/watch?v=ULsWB2AvxVc (Zugriff: 29. Januar 2017)
93 „Evidence points towards a sexual abuse scandal in the Jehovah’s Witnesses organisation on a scale which may be
comparable to the Catholic Church, Savile or the Football Association, yet they refuse properly to acknowledge it
or make effective changes to their safeguarding policies.”
Artikel in The Times vom 26. Januar 2017, „We need to do more to tackle sexual abuse among Jehovah’s Witnesses”:
www.thetimes.co.uk/edition/law/we-need-to-do-more-to-tackle-sexual-abuse-among-jehovahs-witnessesb26nmjn90(Zugriff: 27. Januar 2017)
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diese im gleichen Haushalt wohnen. Auch wer raucht, Lotto spielt oder einen Missbrauch meldet, den
kann das gleiche Schicksal ereilen – eine eiskalte, mächtige und effektive Abschreckung gegen jede Enthüllung.
Eine weltweit aktive religiöse Organisation, die sich anscheinend weigere einzusehen, dass ihre Vorgaben
mutmassliche Missbrauchstäter schützten und Kinder einem Risiko aussetzten, sei zwar frustrierend,
so Hallisey, aber kein Grund zur Hoffnungslosigkeit. Sie fordert, dass die britische Untersuchungskommission
zu Kindesmissbrauch (the independent inquiry into child sexual abuse), das britische
Gegenstück zur australischen Royal Commission, die Wachtturm-Organisation hinsichtlich des
Umgangs mit Kindesmissbrauch überprüfe. Sie fordert ausserdem, dass alle, auch religiöse Organisationen,
Verdachtsfälle von sexuellem Kindesmissbrauch den Behörden melden müssen.
6.3. Aktueller Umgang der Organisation der Zeugen Jehovas mit Kindesmissbrauch
– Fazit
Offensichtlich besteht weiterhin die hochproblematische Praxis der „Untersuchung“ von sexuellem
Kindesmissbrauch durch Älteste der Organisation. Und weiterhin muss die Schuld eines nicht geständigen
Täters durch die Zwei-Zeugen-Regel „bewiesen“ werden. Das wird wie bisher zur Folge haben,
dass die überwiegende Mehrzahl der Täter in der Versammlung bzw. der Nachbarschaft verbleibt.
Die vorgesehenen „Schutzmassnahmen“ schützen weder die Kinder innerhalb der Gemeinschaft der
Zeugen Jehovas noch in der Umgebung wirksam vor Übergriffen.
Die neuen Weisungen an die Ältesten sehen vor, dass Opfer oder Angehörige von Opfern den Missbrauch
anzeigen können, wenn sie das wollen. Betroffene werden dazu allerdings nicht ermutigt,
vielmehr dürfte die stets präsente Forderung, keine Schande über die Organisation Jehovas zu bringen,
eine hohe Hürde darstellen.
Nach neuesten Anweisungen sollen die Ältesten darauf achten, dass Kinder und Jugendliche nicht
mehr allein befragt werden und Opfer bei Befragungen nicht mehr mit dem Täter konfrontiert werden.
Auch sollen Betroffene professionelle Hilfe in Anspruch nehmen können.
Die Ältesten selbst sollen im Fall eines Missbrauchs immer als erstes die Zentrale kontaktieren, welche
dann das weitere Vorgehen vorgibt. Aus der Formulierung kann man schliessen, dass eine Meldung
an Behörden oder Polizei nur dort erfolgen dürfte, wo sich diese aufgrund der Gesetzgebung
nicht umgehen lässt.
Kindesmissbrauch innerhalb der Zeugen Jehovas soll also auch in Zukunft möglichst von der parallelen
Gerichtsbarkeit der Organisation gehandhabt werden. Das bedeutet wohl auch, dass Täter auch
weiterhin kaum belangt werden und sich wiederholt an Kindern vergehen können.
7. Schlussfolgerungen
Durch die Untersuchungskommissionen in Australien und in Grossbritannien, jüngste wegweisende
Gerichtsurteile gegen die Wachtturm-Organisation sowie die damit einhergehende weltweite Berichterstattung
entsteht in einer breiteren Öffentlichkeit ein Bewusstsein um die problematischen
organisationalen Vorgaben der Zeugen Jehovas: angeblich biblisch basierte Regeln, die Kindesmissbrauch
begünstigen, Opfer weiter traumatisieren und Täter vor Strafverfolgung schützen.
Durch die vermehrte Berichterstattung über dieses Thema dürfte eine Sensibilisierung von Behörden
und Fachstellen stattfinden, die mit dem Thema Kinderschutz bzw. sexuellem Kindesmissbrauch befasst
sind. Die Berichte geben ein klares Bild, wie die Wachtturm-Organisation sexuellen Missbrauch
innerhalb der eigenen Reihen bisher gehandhabt hat: Zugunsten des Images der Organisation auf
Kosten der Opfer. Für die Beurteilung des Kindeswohls innerhalb einer (religiösen) Organisation ist
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das relevant. Es macht deutlich, wie dogmatisch die Lehre ist, wie geschlossen das System und wie
hoch die Opferzahlen sind, die in Kauf genommen werden – sprich: wie sektenhaft die Zeugen Jehovas
funktionieren.
In Deutschland und Österreich könnte eine breitere öffentliche Debatte zu den jahrelangen Versäumnissen
der Zeugen Jehovas bezüglich des Schutzes von Kindern vor sexueller Gewalt auch zu
einer Diskussion über den Körperschaftsstatus der Organisation führen. Kann eine internationale
religiöse Organisation, die den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts als staatliches Gütesiegel
vor sich her trägt, die Ermittlungen staatlicher Kommissionen derart behindern, wie das in
Grossbritannien geschehen ist? Es wird künftig kaum mehr genügen, wenn die WachtturmOrganisation
wie bisher im Zusammenhang mit jeder Kritik auf den Körperschaftsstatus verweist, um
so die eigene Rechtstreue zu unterstreichen.
Dafür wird es nach dem Bericht der australischen Untersuchungskommission für PolitikerInnen, die
sich für Kinderschutz und Kinderrechte stark machen, in Zukunft leichter sein, in den Parlamenten
Gehör zu finden. Kinder innerhalb sektenhafter Gruppen gehören zu den rechtlosesten Kindern moderner
Gesellschaften. So wie früher Kinder in Heimen oder Verdingkinder sind Kinder in sektenhaften
Gruppen heute die Kinder ohne Stimme. Sie sind in höchstem Masse vulnerabel: Innerhalb der
Gruppe erfahren sie aufgrund dogmatischer Vorgaben in vielen Situationen zu wenig Schutz, und
ausserhalb der Gruppe weiss man oft nicht um ihre Situation.
Eine breitere öffentliche Debatte zum Thema Kindesmissbrauch wird nach Australien und Grossbritannien
hoffentlich auch in anderen Ländern dazu führen, dass sich Betroffene an bestehende staatliche
Kommissionen wenden, z.B. in Deutschland an die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung
sexuellen Kindesmissbrauchs.94 Und dass, falls noch nicht vorhanden, solche Anlaufstellen bzw. untersuchende
Kommissionen geschaffen werden.
Schliesslich ermöglicht die öffentliche Berichterstattung Zeugen Jehovas, sich über das Thema Kindesmissbrauch
und den Umgang der Organisation damit zu informieren. Zeugen Jehovas ist es untersagt,
sich auf Aussteigerportalen, welche seit Jahren intensiv zum Thema Kindesmissbrauch berichten,
Informationen zu beschaffen. Berichten die Medien darüber, ist das eine Chance, dass Eltern
innerhalb der Zeugen Jehovas sensibilisiert werden für das Thema Kindesmissbrauch und dadurch
ihre Kinder besser schützen können.
Am Ende dürfte es der öffentliche und politische Druck sein, der dazu führen wird, dass die Zeugen
Jehovas ihre Politik ändern und endlich den Schutz der Kinder über das Ansehen der Organisation
stellen. Alle Massnahmen zum Schutz der Kinder, welche aufgrund des zunehmenden Druckes in
Nordamerika und Europa erfolgen, dienen auch dem Schutz der Kinder in Südamerika, Afrika und
Asien, jenen Regionen, wo die Zeugen Jehovas heute am meisten Zuwachs haben. Kinder aus diesen
oft strukturschwachen Ländern mit einer häufig nur wenig ausgeprägten Zivilgesellschaft sind Übergriffen
und ihren Folgen noch stärker ausgesetzt. Das Handeln von Zivilgesellschaft, Medien und Politik
in den reichen Industrienationen hat weltweit Auswirkungen auf die Lebens- und Entwicklungsbedingungen
von Tausenden von Kindern innerhalb der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas.
94 Website der deutschen Aufarbeitungskommission:
www.aufarbeitungskommission.de/ (Zugriff: 29. Januar 2017)
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